Anastasia Burggraf
Geboren und aufgewachsen bin ich in einer Stadt im russischen Altai-Gebiet. Neben Geschichte habe ich mich schon früh für die — zum damaligen Zeitpunkt und in meiner Heimatstadt weitestgehend nur Männern zugetraute und deshalb leider oftmals nur diesen vorbehaltene — Arbeit eines Videooperators interessiert. Weil ein Geschichtsstudium aus finanziellen Gründen für mich leider keine Option war, habe ich deshalb schon während meiner letzten Schuljahre sowie parallel zu einer Fachausbildung im Handel bei einem lokalen Fernsehsender gearbeitet. Dort habe ich mir von den Kollegen nicht nur die Arbeitstechniken eines Kameramannes, sondern Schritt für Schritt auch die Funktion und die Arbeit mit der Aufnahme- und Schnitttechnik erklären und beibringen lassen. Aufgrund meines großen Interesses an dieser Arbeit bekam ich zu meiner Freude und wider Erwarten schon nach kurzer Zeit bei diesem Sender die Möglichkeit, als Kamerafrau zu arbeiten. Mit eigenen Beiträgen für das lokale Fernsehen konnte ich fortan meine Begeisterung für die Arbeit als Kamerafrau professionell ausleben, meine diesbezüglichen Kenntnisse vertiefen und meine Erfahrungen erweitern.
Nach Abschluss meiner Ausbildung sowie nach einiger Zeit als professionelle Kamerafrau beim Lokalfernsehen zog es mich in die weite Welt hinaus. Sowohl beruflich als auch persönlich wollte ich mich weiterentwickeln und wagte — aus meiner damaligen Perspektive — den großen geographischen Sprung aus dem Altai-Gebiet in die frühere Hauptstadt Kasachstans, nach Almaty. Hier, in der größten Stadt des Landes und dem wichtigsten Wirtschaftszentrum Zentralasiens, war ich anfangs völlig auf mich allein gestellt. Ohne persönliche Beziehungen und Kontakte fiel es mir lange Zeit recht schwer, mir in dieser sich rapide verändernden Stadt eine neue Lebensgrundlage zu erarbeiten. Denn zu meiner Überraschung musste ich nach meiner Ankunft in Kasachstan feststellen, dass sich das Leben und die Kultur der Menschen in Almaty deutlich von denen im Altai-Gebiet unterschied. Bis dahin bin ich — wie wohl viele Menschen in Russland — fälschlicherweise davon ausgegangen, dass im postsowjetischen Raum die regionalen Kulturen, die Verhaltensweisen und auch die Perspektiven der Menschen auf die Welt als ein Erbe der sowjetischen Erziehung einander sehr ähnlich sind. Aufgrund meiner persönlichen als auch professionellen Erfahrung als Kamerafrau in Almaty musste ich diese Annahme der kulturellen und mentalen Ähnlichkeit jedoch schnell revidieren. Aus dieser spezifischen Erfahrung, dass sich die Verhaltensweisen und die Kultur der Menschen in Almaty so sehr von denen im Altai-Gebiet unterscheiden, erwachte mein zwischenzeitlich etwas verdrängtes Interesse an der Geschichte der Sowjetunion erneut und entstand in mir der Wunsch, die historischen Gründe für diese Unterschiede zu ergründen.
Eine großartige Gelegenheit, mein erneut erwecktes Interesse an der Geschichte der Sowjetunion als auch meine Qualifikation als Kamerafrau miteinander zu kombinieren, ergab sich in einem von der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ geförderten Projekt. Im Rahmen dieses Projektes zu „Spuren von Zwangsarbeit in postsowjetischen Städten“ suchten die anderen Projektteilnehmer und ich nach Artefakten des Gulag in urbanen Räumen in Kasachstan und Russland und führten eine Vielzahl von Interviews mit Bewohnern der besuchten Städte durch. Die Arbeit für das Projekt führte mich dabei nicht nur in die großen Städte Kasachstans und Russlands wie Astana und Moskau, sondern auch in die entfernten Regionen des ehemals sowjetischen Raumes wie Wladiwostok, Magadan und Jakutsk.
Nach diesem Projekt war meine Reiselust endgültig erwacht. In der Folgezeit besuchte ich eine Vielzahl an Ländern in Asien und Europa und versuche seitdem bei meinen Reisen durch andere Länder eine Antwort auf die Frage zu finden, warum so viele Menschen nicht in Frieden mit ihren Nachbarn leben können und was die verschiedenen Bevölkerungsgruppen so oft in gewaltsame Konflikte miteinander treibt.
Vor diesem Hintergrund sehe ich in der Teilnahme am Grenzland-Projekt für mich eine sehr gute Gelegenheit, mehr über die Geschichte Mittel- und Osteuropas im 20. Jahrhundert zu erfahren. Insbesondere die Ursachen der europäischen Teilung zwischen 1945 und 1989⁄90 interessieren mich dabei sehr. Darüber hinaus möchte ich natürlich im Rahmen des Projektes erfahren, wie die Menschen mit dieser Teilung umgegangen sind, welche Sichtweise sie auf die Ursachen dieser Teilung hatten und in der Gegenwart haben und wie sie das Ende des Kalten Krieges bewerten.
Götz Burggraf
Gegen Ende der 1980er Jahre trieb mich jugendlicher Leichtsinn in der Schule einmal zu einer öffentlichen Äußerung meinem Geschichtslehrer gegenüber, dass bis dato alle jemals gegründeten Imperien untergegangen seien. Demnach sei es nur eine Frage der Zeit, wann auch die bestehenden Imperien — und hier namentlich die Sowjetunion als territorialer Nachfolger eines imperialen Zarenreiches — untergehen und zerfallen werden. Ich weiß nicht, wie ein Lehrer auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs auf eine solche Äußerung eines Schülers reagiert hätte — meiner hatte im Kontext seines sozialistischen Erziehungsauftrages jedoch ein Problem mit meiner (zugegeben recht naiven und wohl bestenfalls als Provokation geeigneten) Schlussfolgerung. Weder mein Lehrer noch ich konnten uns jedoch in den dieser Bemerkung folgenden intensiven Gesprächen mit der Schulleitung und dem Lehrerkollektiv vorstellen, dass nur wenige Monate nach meiner pubertären Provokation die Sowjetunion tatsächlich aufhören würde zu existieren und in ihre Teilrepubliken zerfällt.
Mit dieser mangelnden Vorausschau standen mein Lehrer, dessen Kollegen und ich aber nicht alleine da. Millionen von Menschen, ungeachtet ihrer Profession und ihrem Einblick in die inneren Strukturen der sozialistischen Länder, konnten sich selbst im Frühjahr 1989 nicht in ihren kühnsten Träumen ausmalen, welche Ergebnisse die politischen Umwälzungen in den wenigen Monaten zwischen dem Sommer 1989 und dem Herbst 1991 zeigen würden. Für mich als Heranwachsenden besonders schockierend war jedoch der Umstand, dass selbst die vielen anerkannten und nicht nur die selbsternannten Experten aus der sogenannten „freien Welt“ weder eine realitätsnahe Vorstellung von wirtschaftlichen und politischen Zuständen noch von den potentiellen Entwicklungsperspektiven im „Reich des Bösen“ hatten. Für alle diese Wissenschaftler, politischen Berater, Entscheidungs- und Verantwortungsträger kam der politische und wirtschaftliche Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und die Auflösung der Sowjetunion völlig überraschend.
Wenn jedoch nahezu alle diese Experten den Zusammenbruch eines kompletten Ordnungssystems selbst wenige Monate vor diesem epochalen Ereignis nicht einmal als eine theoretische Möglichkeit in ihren Modellen und wissenschaftlichen Betrachtungen hatten, warum sollte man dann den Handlungsempfehlungen derselben Experten für den Umgang mit der neuen politischen Realität in den frisch gewendeten Volkswirtschaften folgen und ihren Ratschlägen Vertrauen schenken?
Diese Frage nach der Belastbarkeit von Schlussfolgerungen für die Gegenwart aus der Analyse historischer Prozesse sowie deren Pfadabhängigkeiten bestimmt seitdem einen großen Teil meines Lebens. Zuerst im Rahmen eines Universitätsstudiums der Wirtschaft, Kulturwissenschaft, Geschichte, Geographie und Politik an verschiedenen Hochschulen in Deutschland und den USA, später im Rahmen von Projekten der politischen Erwachsenenbildung. In gewisser Weise folgt auch das Grenzland-Projekt dieser Suche nach Erkenntnis. Im Rahmen der Reise entlang des früheren Eisernen Vorhangs möchte ich erfahren, ob — und falls ja — in welcher Weise sich die Orientierung der Menschen entlang dieser früheren Trennlinie der politischen Blöcke geändert hat.