Erst auf den letzten Kilometern durch Estland fällt uns auf, dass wir zu wenige Bilder gemacht haben. Vor allem fehlen uns Bilder von Profanbauten, von Wohngebäuden, von Feldern, Wäldern und Wiesen, mit Hilfe derer Menschen die noch nie in Estland waren eine Vorstellung davon bekommen können, wie es in diesem Land aussieht. Für uns waren die Alltagsarchitektur, die Gebäude jenseits der historischen Bausubstanz zu gewöhnlich und unterschieden sich zu wenig von dem, was man in Deutschland finden kann. Auch die Kulturlandschaft war uns zu dicht an der in deutschen Landen, so dass uns das besondere fehlte, dass und zum Fotografieren und Videodrehen veranlasst hätte. Nun fehlen uns diese Bilder für die Nachverwertung der Reise… Nun, es liegen ja noch sieben Länder vor uns, mit entsprechendem Bildmaterial aus diesen Ländern sollte man den Fehlbestand etwas kaschieren können.
Der Unterschied zwischen Lettland und Estland fällt schon an der Grenze auf. Auf der estnischen Seite wird man auf Schildern willkommen geheissen, auf die Verkehrsbedingungen hingewiesen und findet umfangreiche Informationstafeln zum Land, den nächsten Sehenswürdigkeiten, Übernachtungsmöglichkeiten und zum Naturschutz. Auf der lettischen Seite — ein etwas in die Jahre gekommenes Lettland-Schild. Im Gegensatz zu Estland findet sich in Lettland jedoch sofort ein Hinweisschild zum Europa-Radweg 13. Auch wenn dieses auf den nachfolgenden 100 Kilometern der Strecke eher spärlich präsentiert wird und auch die Straßen qualitativ deutlich unter dem Niveau in Estland liegen.
Überraschender für uns ist der Umstand, dass sofort hinter der Grenze der kulturelle Unterschied zwischen den beiden Ländern in der Verhaltensweise der Autofahrer zu erkennen ist. In Estland waren nahezu alle Fahrzeugführer sehr zurückhaltend bei den Überholmanövern, der Fahrzeugabstand war möglichst groß und sollte der Platz einmal zu knapp zum Überholen gewesen sein, so wurde so lange mit dem Überholvorgang gewartet, bis sich eine gefahrlose Möglichkeit ergab. Es wurde nicht gehupt und die allgemeine Fahrweise kann als den Bedingungen sehr angepasst beschrieben werden. Kaum in Lettland fühlen wir uns an die Verkehrsbedingungen in Russland erinnert. Es wird gehupt, der Fahrzeugabstand beim Überholen reduziert sich auf unter 20 Zentimeter und ein großen Teil der Fahrzeugführer ist sehr bemüht, so schnell wie möglich vor den großen Schöpfer zu treten. Aber auch die Sicherheitsabstände zwischen den Autos kann man bestenfalls als Witz bezeichnen. Bei Tempi um die 100 Kilometer pro Stunde in einer Kolonne von mehreren Fahrzeugen mit einem Abstand von jeweils unter einer Fahrzeuglänge zu fahren — das ist nur noch als gemeingefährlich zu bezeichnen. Vielleicht hatten die Fahrer alle kein Physik in der Schule. Oder waren gerade in diesem Unterricht häufiger krank. Wer weiss.
Wie schon in Estland sind die Radwege als Alternative zur Straße zwar vorhanden, für einen Tourenfahrer jedoch nicht zu gebrauchen. Scharfe Kurven, häufige Bordsteinkanten sowie Fahrbahnseitenwechsel machen diese Wege bestenfalls für einheimische Radfahrer ohne Gepäck und mit einer Fahrleistung von wenigen hundert Metern am Tag attraktiv.
Da die direkte Strecke zwischen der estnischen Grenze und Riga leider wenig landschaftliche Abwechslung bietet, fällt uns auf, dass Polen gegenüber Lettland einen enormen komparativen Kostenvorteil bei Lastverkehren haben muss. Nahezu alle LKW auf der Strecke zwischen Riga und der estnischen Grenze haben polnische Kennzeichen. Aber ein Wirtschaftswissenschaftler kann dies sicherlich scheinbar plausibel mit einem Mechanismus als Ausdruck eines freien, gleichen und unverzerrten Marktes darstellen… 😉