Ein wesentlicher Bestandteil des Projektes „Geschichtswerkstatt Taschkent“ war die Erfassung und Dokumentation städtebaulicher und alltagskultureller Artefakte. Nach intensiver theoretischer Vorbereitung in Seminaren, Vorlesungen und durch umfangreiches Selbststudium erfaßten Studenten deutscher und usbekischer Hochschulen gemeinsam ausgewählte Orte in Taschkent. Diese Dokumentation des Ist-Zustandes war Grundlage für umfangreiche Vergleiche mit Archivmaterialen zu diesen Orten. Aus der Gegenüberstellung des während der Feldarbeiten im Frühjahr 2007 gewonnenen Materials mit den historischen Beständen wurde die Entwicklung des urbanen Raumes als auch der Alltagskultur in Taschkent im 20. Jahrhundert nachvollzogen und mit bestehenden Geschichtsbildern verglichen.
Bei den Studien vor Ort wechselten sich Gruppenarbeit und individuelle Forschung ab. Stadterkundungen unter Leitung erfahrener Wissenschaftler waren zentral in der Gruppenarbeit; sie wurden ergänzt von Vorträgen und Gesprächsrunden, die für die Projektarbeit bedeutende Themen von Geschichte und Gegenwart Taschkents vertieften. Daneben gingen die Studierenden ihren Projekten nach, die sie im Laufe des vorbereitenden Seminars entwickelt hatten. Individuelle Stadtwanderungen, Museums- und Bibliotheksbesuche sowie Experteninterviews standen im Mittelpunkt der jeweiligen Projektarbeit.
Sabine Seidel und Nancy Waldmann gingen in ihren Feldforschungen der Frage nach, wie sich die Geschichtskultur zwischen der Sowjetzeit und dem unabhängigen Usbekistan wandelte und sich im Stadtbild niederschlug. Anhand von Stadtführern und ergänzt durch Expertengespräche rekonstruierten sie die Gestaltung zentraler Erinnerungsorte im Wandel der Zeiten, unter ihnen der zentrale Platz im Herzen Taschkents, auf dem einst ein Denkmal für den russischen Gouverneur Kaufmann errichtet wurde und auf dem heute eine Reiterstatue des Bezugspunktes jeder usbekischen Geschichtsinterpretation – Amir Timur – steht. Mit ihren Arbeiten zeigten Nancy Waldmann und Sabine Seidel einen radikalen Bruch in der Erinnerungskultur Usbekistans nach dem Ende der UdSSR auf.
Mit der Bildung des unabhängigen usbekischen Staates vollzog sich ein Rollentausch zwischen der einst privilegierten russischen Bevölkerung, die unter der russischen bzw. sowjetischen Herrschaft eingewandert war, und den autochthonen Usbeken. Eva Cukier untersuchte das Schicksal der russischen Bevölkerung in Usbekistan im allgemeinen und in Taschkent im besonderen. Auf der Grundlage zahlreicher Gespräche mit Vertretern russischer Organisationen sowie „einfachen“ Menschen zeichnete sie ein farbiges Bild von der radikalen Veränderung der Lebensverhältnisse der Russen seit der usbekischen Staatsbildung. Maciej Wąs beschäftigte sich mit der zahlenmäßig kleinen polnischen Minderheit in Taschkent und beschrieb diese anhand von Interviews als eine geschlossene Gruppe. Angesichts der wachsenden Rolle des Islams in Usbekistan, so eine seiner Thesen, spiele für die Taschkenter Polen die katholische Religion eine immer wichtigere Rolle als identitätsstiftender Faktor.
Die Entwicklung des Islam im unabhängigen Usbekistan untersuchte Ismael Nouns. Gestützt auf Gespräche mit Geistlichen, Gemeindemitgliedern und Wissenschaftlern zeichnete er dessen Entwicklung von einem diskriminierten Bekenntnis zu einer Quasi-Staatsreligion nach. Erkundungen der neuen Moscheenarchitektur ergänzen das Bild von einer Neubesinnung auf die religiösen Grundlagen der usbekischen Kultur.
Robert Michaelis wandte sich während seiner Feldforschung der säkularen Architektur im Wandel der Zeiten zu. Ausgedehnte Stadterkundungen und Gespräche mit Stadtplanern und Architekten waren Ausgangspunkt seiner Rekonstruktion der Veränderung im Stadtbild Taschkents um die beiden Zeitachsen 1966 (Erdbeben in Taschkent mit großflächiger Zerstörung der Stadt) und 1991 (usbekische Unabhängigkeit). Auf der Grundlage seiner Recherchen konnte Robert Michaelis zeigen, wie die sowjetische Gebrauchsarchitektur nach dem großen Erdbeben an zentralasiatische Formen adaptiert wurde und wie heute eine eigene Repräsentationsarchitektur entsteht.
Thomas Hövelmann schließlich beschäftigte sich mit den Folgen der usbekischen Staatsbildung für die Beziehungen des zentralasiatischen Landes zu Rußland. Zahlreiche Gespräche mit Wissenschaftlern und Politikern führten zu dem Ergebnis, dass die bilateralen Beziehungen vor allem durch den im Projekt von Eva Cukier thematisierten Rollentausch und die usbekische Minderheitenpolitik belastet sind.
Alle Einzelprojekte erbrachten eine reiche Dokumentation in Form von Bildern, Interviewmitschnitten und interpretierenden Analysearbeiten. Sie zeichnen den Wandel Taschkents von einer Metropole an der Peripherie der Sowjetunion zur Hauptstadt des unabhängigen Usbekistans, die Veränderung seiner Erinnerungskultur, seiner Architektur und des Alltags seiner Bewohner. Die Feldforschungen haben außerdem zahlreiche Fragen aufgeworfen, welche die Teilnehmer seitdem individuell weiter verfolgen.
© Copyright 2006 — 2007 Geschichtswerkstatt Taschkent
Ein Projekt von
Wilko Schroth,
Götz Burggraf und
Torsten Lorenz
in Zusammenarbeit mit der
Professur
für Geschichte Osteuropas an der
Europa-Universität
Viadrina Frankfurt (Oder).
Datei erstellt am: 01.12.2006 10:01 von: Adam
Twardoch
Letzte Änderung am:
05.11.2007 20:27
von: Götz Burggraf
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