Geschichtswerkstatt Taschkent

Geschichte erfahren — Geschichtsschreibung verstehen

Die Ausstellung

Eines der Ziele des Projektes „Geschichtswerkstatt Taschkent“ war es, die Entwicklung einer usbekischen Identität, des nationalen Geschichtsbildes und der Stadt Taschkent seit der staatlichen Unabhängigkeit Usbekistans 1991 nachzuzeichnen und zu dokumentieren. Unmittelbar verbunden mit diesem Ziel war der Wille, die Arbeitsergebnisse des Projektes einem breiten Publikum zugänglich zu machen und vorzustellen. Zu diesem Zweck wurde aus den Ergebnissen der Feldstudien in Taschkent eine Ausstellung erarbeitet und im Sommer 2007 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) gezeigt. Eine kleine Auswahl der in dieser Ausstellung gezeigten Bilder findet sich in aufbereiteter Form auch an dieser Stelle.

Denkmäler

Nach der Auflösung der Sowjetunion durchliefen alle ehemaligen Unionsrepubliken einen Prozeß der (Wieder-) Begründung ihrer nationalen Identität — so auch Usbekistan. An die Stelle staatstragender Erinnerungsorte der Sowjetunion traten nationale Denkmäler. Von dieser Umgestaltung der Erinnerungsorte waren jedoch nicht alle Gedenkstätten in gleichem Maße betroffen. Während auf der einen Seite Denkmäler ersatzlos entfernt wurden, erfuhren andere eine äußerliche Umgestaltung und behielt eine dritte Gruppe unverändert ihre Form und Funktion.

Sowohl das Denkmal für die Opfer des verheerenden Erdbebens vom 26. April 1966 als auch das Puschkin-Denkmal gehören zu der Gruppe jener Erinnerungsorte, welche in den Jahren seit der staatlichen Unabhängigkeit Usbekistans nicht verändert wurden.

Wurde an diesem Ort zur Zeit des Bestehens der Sowjetunion den Opfern des II. Weltkrieges gedacht, so wurde die Anlage nach der staatlichen Unabhängigkeit Usbekistans umgestaltet und ist jetzt hauptsächlich den usbekischen Opfern des Krieges gewidmet.

Wie die Büste Karl Marx' wurde die Statue Lenins nach der staatlichen Unabhängigkeit Usbekistans entfernt und der Denkmalssockel mit einer neuen Installation versehen.

gebäude

Nicht nur Erinnerungsorte erfuhren nach der Auflösung der Sowjetunion einen Wandel in ihrer Gestaltung, Nutzung sowie Wahrnehmung in der Gesellschaft. Auch für Repräsentationsgebäude aus der Zeit der Sowjetunion ist ein ähnliches Muster festzustellen: Einige der Gebäude behielten bislang unverändert ihre Form und Funktion während andere Gebäude in den letzten Jahre eine massive bauliche Umgestaltung erfuhren. Gleichzeitig wurden neue Repräsentationsgebäude errichtet, welche als Gegenpol zu der übernommenen sowjetischen Bausubstanz wirken und das unabhängige Usbekistan verkörpern sollen.

Im Vergleich zu Büchern, mündlichen Erzählungen oder Denkmälern besitzen Gebäude eine sehr hohe „historische Trägheit“. Die hohen Kosten für einen Abriß und Neubau bzw. einen Umbau verhindern oftmals eine Anpassung an aktuell herrschende Moden und Strömungen. Auf diese Weise überdauern architektonische Artefakte lange Zeiträume, auch wenn deren Form und Gestaltung von den Nachfahren der Erbauer nicht gern gesehen sind. Der Bestand historischer Gebäude ist für gewöhnlich weniger durch das Fehlen eines Umgestaltungswillens als vielmehr durch ökonomische und politische Sachzwänge bestimmt.

Bleibt ein urbaner Ort oder ein prominentes Gebäude für lange Zeit unverändert, so liegt dies – von einer eventuell bestehenden historischen Bedeutung abgesehen – hauptsächlich an einer geringen Priorität bei der Verwendungsplanung von Ressourcen.

Die derzeit noch in Taschkent bestehenden Gebäude sowjetischer Architektur sind in diesem Sinne bislang nur geduldet und nicht als historische und erhaltenswerte Bausubstanz akzeptiert. Es fehlte bisher einfach das Geld, diese Gebäude einem radikalen Umbau oder Abriß zu unterziehen. In Anbetracht geringer finanzieller Ressourcen standen die noch weitgehend unveränderten Gebäude in der Priorität den Repräsentationsgebäuden der obersten Staatsorgane wie Senat, Präsidialamt, Ministerien, etc. nach. Sobald der Umbau höher priorisierter Gebäude abgeschlossen ist, werden aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch diese bislang wenig veränderten sowjetischen Bauten ihr gegenwärtiges Aussehen im Rahmen einer umfassenden Rekonstruktion verlieren.

Aus ökonomischen Gründen werden im Gegensatz zu den Nachbarländern Kasachstan und Turkmenistan mit ähnlichen Bauprojekten für ihre Hauptstädte in Taschkent die Repräsentationsgebäude des unabhängigen Usbekistans nicht neu errichtet, sondern entstehen mehrheitlich durch Umbau bestehender Substanz.

Bei diesen Umbauten bleiben die Grundkörper der Gebäude weitestgehend erhalten und bekommen nur ein neues, ein „usbekisches Gesicht“. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich jedoch nicht um einfache Umbauten im Rahmen von Sanierungen bzw. Modernisierungen der alten Bausubstanz. Die Gebäude werden stattdessen gezielt in ihrer Außen- und Raumwirkungen verändert, um ihnen jeden Hinweis auf ihre Herkunft aus der Zeit der Sowjetunion zu nehmen.

Hierfür werden nicht nur unter großem Aufwand die Fassaden ersetzt, sondern zumeist auch die unmittelbaren Umgebungen der Gebäude in die Umgestaltung mit einbezogen.

Insbesondere bei Solitärbauten kommt einer Umgestaltung des Wirkungsraumes des Gebäudes eine ebenso große Bedeutung zu, wie dem Umbau des Hauses selbst.

Neue Repräsentationsbauten sind der klarste Ausdruck für politische und wirtschaftliche Interessenlagen im unabhängigen Usbekistan. Besonders deutlich wird dies an den neu errichteten Gebäuden für das Messe- und Kongresszentrum, am Gebäude des Timuriden-Museums, dem Parlamentsgebäude aber auch dem Ausstellungspavillion.

Ohne Rücksicht auf bestehende Baustrukturen konnten diese Gebäude auf bislang unbebautem Terrain errichtet werden und kommt in der Gestaltung dieser die Suche nach einem usbekischen Nationalstil zum Ausdruck.

Die genannten Gebäude sollen den Betrachter durch Größe, Form und Gestaltung beeindrucken, sollen beispielhaft die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes sowie dessen historische Wurzeln zeigen. Dies gelingt aber nur bei einer oberflächlichen Betrachtung. Schon ein zweiter Blick zeigt eine Mischung aus Detaillösungen und gestalterischen Fragmenten mit einer Kombination aus hochwertigen und preiswerten Materialien.

Anonym wirkende und global anzutreffende Stahl-Glas-Konstruktionen werden mit Stilelementen historischer usbekischer Gebäude vermischt, ohne dass eine klare Entwicklungslinie erkennbar ist. Die Gestaltung der Neubauten wirft letztendlich mehr Fragen zur usbekischen Identität auf, als sie mit Anleihen bei historischer Bausubstanz vermitteln kann.

Nachdem weite Teile Taschkents 1966 von einem schweren Erdbeben zerstört wurden, begann kurz darauf ein groß angelegtes Wiederaufbauprogramm. In den folgenden Jahren wurde vor allem Wohnraum in Form von Plattenbauten errichtet. Dieser Aufbau erfolgte überwiegend mit der in der Sowjetunion weit verbreiteten und an Normen gebundenen Typenbauweise.

Im Kontrast zu weitgehend schmucklosen Ausführungen dieser Typenbauten in anderen Städten der Sowjetunion wurden in Taschkent vor allem Giebelfassaden und Eingangsbereiche der industriell gefertigten Plattenbauten mit dekorativen Elementen verziert.

Bei der dekorativen Gestaltung der Außenflächen der Gebäude wurden mehrheitlich Mosaike und Vorhangfassaden eingesetzt. Letztere dienten hauptsächlich dem Sonnenschutz, verliehen darüber hinaus aber jedem Haus auch eine spezielle Außenwirkung.

Taschkenter Lebenswelten

In Taschkent stehen sich mit dem Aufbau einer russischen Kolonisten-Siedlung am Rande der Stadt im 19. Jahrhundert und verstärkt seit dem Wiederaufbau der Stadt nach dem schweren Erdbeben 1966 Lebensräume in unmittelbarer Nachbarschaft gegenüber, welche sich grundlegend von einander unterscheiden.
Auf der einen Seite steht dabei das in sich geschlossene Altstadtviertel mit seiner räumlichen Enge, Mehrgenerationenhaushalten in Familienhöfen, traditionellen Subsistenzwirtschaften mit einer Kombination aus Wohn- und Arbeitsraum, besonderen Beziehungsgeflechten zwischen den Nachbarn mit weitreichender Nachbarschaftshilfe und sozialem Ausgleich sowie die Funktionen der Mahalla als unterster Ebene religiöser aber auch staatlich-administrativer Ordnung.

Auf der anderen Seite stehen Neubausiedlungen sowjetischen Stils als räumlich offene Orte, in welchen die Bewohner weitgehend anonym in Zweigenerationenhaushalten nebeneinander statt miteinander leben, in welche soziale Netzwerke von außen hineingetragen und nicht auf unterster Ebene der Verwandtschaft und unmittelbaren Nachbarschaft organisiert werden. Aufgrund der Struktur der (post-) sowjetischen Wohngebiete findet ein großer Teil des sozialen Lebens in einer Plattenbausiedlung im öffentlichen Raum und damit unter Einfluß der weiteren Umwelt statt.

Im Vergleich zu den traditionellen usbekischen Familienhöfen mit ihren 1-2 geschossigen Gebäuden sind die Hochbauten aus der Zeit der Sowjetunion weniger gut an die klimatischen Bedingungen Zentralasiens angepaßt. Ohne Verschattung durch Bäume sind die über der Baumwipfelhöhe gelegenen Etagen weitgehend schutzlos der Sonneneinstrahlung ausgesetzt. In den Sommermonaten mit Tageshöchsttemperaturen um 40 Grad Celsius heizen sich die Wohnräume in den Plattenbauen deshalb sehr viel stärker auf als jene der traditionellen Lehmziegelbauten.

In den Altstadtvierteln Taschkents ragen die Kuppeln der Moscheen weit sichtbar über die 1-2 geschossigen Lehmziegelbauten hinweg. Zwischen den mehrgeschossigen Plattenbauten aus der Zeit der Sowjetunion verlieren sich die Kuppeln.

Die Straßenfluchten der sowjetischen Neubauviertel folgen deutlich erkennbaren Achsen und Prinzipien eines Gesamtplanes, während die Häuser in den Altstadtvierteln keinem erkennbaren Ordnungsprinzip unterworfen sind. Im Gegensatz zu den Plattenbauvierteln zweigen in den Altstadtvierteln von einer Hauptstraße eine Vielzahl kleiner, stark verwinkelter Straßen ab, welche sich zumeist als Sackgassen erweisen.

Die ersten russischen Siedler und Kolonisten paßten sich mit der Bauweise der Häuser dem traditionellen Baustil der Usbeken an. Die Häuser wurden niedrig gebaut und von Baumwipfeln als Sonnenschutz überschatten. In den Folgejahren des schweren Erdbebens von 1966 wurden Neubauten nahezu ausschließlich in industrieller Großbauweise als Plattenbauten errichtet, welche weit über die Baumwipfelhöhe hinausreichen.

Die Familienhöfe in den Taschkenter Altstadtvierteln beherbergen neben den Wohnräumen in der Regel auch die Arbeitsstätten sowie in kleinem Umfang Viehhaltung für den Eigenbedarf.

Nach der Auflösung der Sowjetunion entfielen eine Reihe von Beschränkungen bei der Religionsausübung in Usbekistan. Seitdem beten viele Gläubige auch wieder in der Öffentlichkeit.

In den Spielen der Kinder sind die Unterschiede zwischen Altstadt- und Neubauvierteln irrelevant. Ballspiele unterschiedlichster Art werden überall dort gespielt, wo Platz und Verkehr es zulassen.

Selten sieht man auf den Straßen Taschkents junge Frauen oder Mädchen mit einem Kopftuch. Häufiger sind Mädchen anzutreffen, welche auf den Straßen Fußball oder andere Ballspiele spielen.

© Copyright 2006 — 2007 Geschichtswerkstatt Taschkent
Ein Projekt von Wilko Schroth, Götz Burggraf und Torsten Lorenz in Zusammenarbeit mit der Professur für Geschichte Osteuropas an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

Datei erstellt am: 01.12.2006 10:01 von: Adam Twardoch
Letzte Änderung am: 09.05.2014 17:10 von: Götz Burggraf

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